KINDL signs | signs

KINDL signs, Foto: Marlene Burz

KINDL signs ist als Work-in-Progress unter der Beteiligung unterschiedlicher Akteur*innen angelegt und untersucht die Geschichte des Geländes der ehemaligen Kindl-Brauerei aus diversen Perspektiven. Multilingual angelegte Schilder verweisen auf einschlägige Ereignisse der wechselvollen Geschichte. Im Laufe der Zeit entsteht ein vielstimmiges und überzeitliches Nebeneinander von Ereignissen, das einen Bogen vom 19. bis ins 21. Jahrhundert schlägt. Mithilfe von QR-Codes auf den KINDL signs erhalten die Besucher*innen weitere Hintergrundinformationen. 

Das Projekt wurde am Tag des offenen Denkmals am 11. und 12. September 2021 gelauncht.

1872

Mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1870 und der fortschreitenden Industrialisierung setzt ein Boom in der neuen Hauptstadt Berlin ein. In großen Strömen kommen die Menschen in die Stadt, welche sich zum Zentrum von Handel, Gewerbe und Industrie entwickelt. Die Einwohnerzahl wächst in nur drei Jahrzehnten auf über zwei Millionen.

Am 1. Februar 1872 gründet eine Gruppe von Gastwirten an der Hermannstraße / Ecke Rollbergstraße, in Rixdorf, die Vereinsbrauerei Berliner Gastwirte zu Berlin AG. In den historisierenden Backsteinbauten entsteht eine der ersten Produktionsstätten Norddeutschlands, in der Bier nach Pilsener Art gebraut wird. Pilsener gehören zu den untergärigen Bieren und diese brauchen es in der Produktion, beim Reifen und während der Lagerung kühl. Die moderne Kältetechnik entwickelte sich gerade erst, aber die Bemühungen von Brauereidirektor Hugo Ziegra waren schließlich erfolgreich. Ab 1890 wird ein Spezialbier nach Münchener Art gebraut, das in Berlin so beliebt ist, dass mehr als 200.000 Hektoliter jährlich produziert werden.

In Anlehnung an die Wappenfigur Münchens erhält das Bier den Namen Berliner Kindl. Die Bildmarke wird 1907 von dem Schöneberger Künstler Georg Räder im Rahmen eines Wettbewerbs entworfen. Der sogenannte Goldjunge im Bierkrug wird schnell zum werbewirksamen Markenzeichen von Berlins bekanntester Brauerei, die konsequenterweise 1910 in Berliner Kindl Brauerei-Aktiengesellschaft umbenannt wird.

Zum Brauereigelände gehört ein Ausschankgarten für 10.000 Gäste. Noch heute zeugen die Wandmalereien der denkmalgeschützten Kindl-Festsäle im ehemaligen Schankgebäude an der Hermannstraße 218 von der einst stadtweit bekannten Bierschwemme.  

Nach 133 Jahren schließt die Traditionsbrauerei den Neuköllner Standort im Jahre 2006. Seit 2009 wird vor Ort wieder Bier gebraut: Die Privatbrauerei am Rollberg von Wilko Bereit und Nils Heins produziert bestes Craft-Beer, das auch im Biergarten des KINDL, Babette’s Garden, und dem Café Babette im Sudhaus angeboten wird.

1927

Neukölln – wie Rixdorf nun seit einigen Jahren heißt – wird Bestandteil von Groß-Berlin, welches nun fast vier Millionen Einwohner*innen zählt. Berlin wird zu einer bedeutenden Metropole, vergleichbar mit Paris, London und New York.

In der Weimarer Republik boomt das Brauereiwesen und während der Weltwirtschaftskrise sorgt erhöhter Alkoholkonsum dafür, dass auch die Kindl-Brauerei ihren Betrieb erweitern kann. Auf dem Gelände der Vereinsbrauerei entsteht ab 1927 die hochmoderne Kindl-Brauerei. Das nach den Plänen des Regierungsbaumeisters Hans Claus und des Architekten Richard Schepke in dunkelrotem Bockhorner Klinker erbaute Gebäude im Stil des Expressionismus besticht durch seine klare Trennung in vertikale und horizontale Gebäudeteile und seine hohe Funktionalität. Wahrzeichen ist der fast 38m hohe, schlanke Turm für Wasserreservoir, Malzsilo und Schrotmühle. Mit seinen Spitzbogenöffnungen erinnert die Eingangssituation des Turms an Sakralbauten.

Zentraler Repräsentationsort der Brauerei ist das Sudhaus mit seinen sechs riesigen Kupferkesseln, den größten Sudpfannen Europas. Die aufwändige Innengestaltung des Sudhauses entspricht auch dem Wunsch nach der Demonstration wirtschaftlicher Stärke: Der Fußboden mit einem mehrfarbigen und geometrisch gestalteten Glasmosaik geht auf Entwürfe des Mosaizisten Heinrich Jungebloedt zurück, ausgeführt von den Rixdorfer Werkstätten Puhl & Wagner. Die Fenster mit Bronzerahmen und punktuell buntem Kameoglas sind mit Wänden aus graublauem Marmor kombiniert. Heute steht das Sudhaus des KINDL unter Denkmalschutz.

1933 – 1945

Nach der Zerschlagung der unabhängigen Gewerkschaften wird im Jahr 1933 die Deutsche Arbeitsfront (DAF) gegründet, ein Einheitsverband der Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen und bald größter NS-Massenverband. Ab 1936 lobt die DAF den „Leistungskampf der deutschen Betriebe“ aus. Die in diesem Zusammenhang geschaffene Auszeichnung „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“ wird am 1. Mai, der im Nationalsozialismus zum „Tag der nationalen Arbeit“ umbenannt wurde, verliehen. Die Kindl-Brauerei bewirbt sich und führt die Auszeichnung ab 1937.

Die Nähe der Brauerei zum Regime zeigt sich früh. Bereits 1933 stellt die Kindl AG ihren Produktionsstandort in Oranienburg den Nationalsozialisten zur Verfügung, wo diese im selben Jahr das erste Konzentrationslager errichten. Die Tatsache, dass sich das KZ auf Brauereigelände befindet, ist damals allgemein bekannt, wie auch aus dem Bericht des inhaftierten SPD-Mitglieds Erich Cohn deutlich wird: „Es war in der Nacht vom 1. zum 2. August 1933, als kurz nach Mitternacht SA-Leute mich aus dem Bett holten und in das KZ Kindl-Brauerei Oranienburg verschleppten. Mit mir wurde der Lehrer und Kantor Walter Jacob, Dirigent des Arbeiter-Sänger-Bundes in Sachsenhausen, ein aktives Mitglied der SPD und enger Freund der Familie, verhaftet. Wir mussten uns entlang der großen Fabrikmauer aufstellen und wurden durch große Scheinwerfer angestrahlt.“

Ab 1940 ist das Ziel der Auszeichnung die Umstellung der Betriebe auf Rüstungsproduktion. Die Kindl-Brauerei braute jedoch weiter Bier. Bei alliierten Luftangriffen auf Berlin wird der Standort in Neukölln 1944 stark beschädigt. Die Brauerei setzt Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter*innen ein, um die Produktion bis kurz vor Kriegsende weiterzuführen.

1950er

Die Kindl-Brauerei ist durch Luftangriffe stark beschädigt und Teile der technischen Anlage werden im Rahmen von Reparationszahlungen demontiert, nach Moskau gebracht und dort in einer neuen Brauerei verbaut. Die Neuköllner Brauanlage kann zunächst durch Tauschgeschäfte notdürftig wieder instandgesetzt werden, so dass ab 1947 auf dem Rollberg wieder Bier gebraut wird. Die ersten bei der Wiedereröffnung ausgeschenkten 200 Liter entstammen jedoch der Bürgerbräu-Brauerei. Nachdem durch die deutsche Teilung die Produktionsstätten im Osten Berlins für die Kindl-Brauerei nicht mehr zur Verfügung stehen, widmet sich das Unternehmen mithilfe amerikanischer Subventionen dem Wiederaufbau des Gebäudes. Dabei bleibt die Außenfront des Gesamtkomplexes bestehen und die Fassade des Gärkellergebäudes wird nach Osten erweitert. Die Produktionsanlage wird in mehreren Bauabschnitten technisch auf den neusten Stand gebracht. Die Innenarchitektur des Sudhauses wird beim Wiederaufbau neu entworfen. Der ‚Kinoarchitekt‘ Gerhard Fritsche, der in Berlin unter anderem auch das Kino Zoo Palast auf der Charlottenburger Hardenbergstraße gestalten wird, nutzt Kupfer, Messing, Weißmetall, fränkischen Jura-Kalkstein und elfenbeinfarbige Detopak-Glaskeramikfließen für die Wände. Die 32. Ausgabe der Architekturzeitschrift Bauwelt von 1953 ist der instandgesetzten Brauerei gewidmet und auf dem Titelblatt ist das umgebaute Sudhaus zu sehen.

Heute beherbergt das Sudhaus das Café Babette. Hier – wie auch im Biergarten Babette’s Garden – organisiert der Künstlerkurator und Gastronom Maik Schierloh Konzerte, Performances und Buchpräsentationen.

seit 2012

Für den Bezirk ist die Schließung der Neuköllner Produktionsstätte des Berliner Kindl im Jahr 2006 eine schlechte Nachricht. Der Verlust von 160 Arbeitsplätzen im strukturschwachen Neukölln, der Abschied von einem für die Identität des Bezirks einzigartigen Ort und das Entstehen einer Brachfläche wiegen schwer. Typisch für das Berlin der Zeit entdecken schon bald Kunst und Club-Kultur das beeindruckende Gebäude zur Zwischennutzung.

2011 erwerben Salome Grisard und Burkhard Varnholt den Gebäudekomplex und konzipieren gemeinsam mit Gründungsdirektor Andreas Fiedler das KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst als unabhängig kuratierte Kunsthalle. Voraussetzung für diese neue Nutzung ist eine behutsame Instandsetzung des denkmalgeschützten Gebäudes. Die Architektin Salome Grisard entwickelt ein offen gestaltetes Erschließungssystem an der ostseitigen Brandwand des Gebäudes: Ein verglastes Foyer und ein außen am Gebäude verlaufendes Treppenhaus aus Sichtbeton mit punktgehaltener Verglasung sind die Bestandteile der Erneuerung der ehemaligen Brauerei. Zentraler Aspekt der Sanierung sind außerdem die Umbauten des Maschinenhauses und des Kesselhauses zu Ausstellungsflächen mit Shedoberlichtern und schließlich die Anlage eines Biergartens, der von vielfältig nutzbaren skulptural geformten Sichtbetonquadern eingefasst ist. Seit 2014 - – auch schon während der Bauzeit - – finden im KINDL regelmäßig Ausstellungen und Diskussionen zur zeitgenössischen Kunst statt.

2020 übernimmt Kathrin Becker die künstlerische Leitung. Der inhaltliche Fokus ihrer Arbeit liegt auf dem Zusammenspiel von gesellschaftlichen Fragestellungen und Kunst und sie entwickelt das KINDL als kommunikativen Raum, der es ermöglicht, einen kritischen Blick auf die Phänomene einer globalisierten Gegenwart zu werfen und so künstlerische und gesellschaftliche Diskurse und Praktiken voranzutreiben.

Auf dem umgebenden Areal siedeln sich parallel innovative und gesellschaftlich aktive Initiativen an. Entwicklungspolitische und migrantisch-diasporische NGOs sind hier ebenso vertreten wie ein Gemeinschaftsgarten oder der älteste queere Club Deutschlands.  


Literatur  

„Der Wiederaufbau der Berliner Kindl-Brauerei. Architekt Gerhard Fritsche, Berlin“, in: Bauwelt Heft 32/1953.

Hans Claus: Regierungsbaumeister, Richard Schepke, Architekt B.D.A., mit einer Einleitung von Martin Richard Möbius, Reihe Neue Werkkunst, Berlin / Leipzig / Wien: Hübsch, 1931.

Hans Biereigel: „Schweigen ist Gold – Reden Oranienburg. Zur Geschichte des ersten Konzentrationslagers der Nazis in Preußen“, in: Berlinische Monatsschrift Heft 9/2000.

Architekten-Verein zu Berlin (Hg.): Berlin und seine Bauten, Berlin: Ernst&Korn, 1877.

Hans Claus und Richard Schepke: „Neubauten der Berliner Kindl Brauerei“, in: Tageszeitung für Brauerei, 28. Jg. Nr. 34 vom 9.2.1930, S. 155 -158.

Dies.: „Neubauten der Berliner Kindl Brauerei“, in: Tageszeitung für Brauerei, 28. Jg., Nr. 102, 2.5.1930, S. 481-484.

Chup Friemert: Produktionsästhetik im Faschismus. Das Amt „Schönheit der Arbeit von 1933 bis 1939. Mit einem Vorwort von Wolfgang Fritz Haug,  München: Damnitz, 1980.

R. Heuss: „Der Wiederaufbau der Berliner Kindl-Brauerei AG in Berlin-Neukölln (II. Bauabschnitt)“, in: Brauwelt Nr. 45 vom 5.6.1953, S. 576 – 578.

Claudia Keller und Lars von Törne: „Zapfenstreich in Neukölln“, in: Tagesspiegel vom 2.5.2005.  

Paula Lange und Johanna Voß: „Die Kindl-Brauerei. Ein Neuköllner Bier-Imperium“, in: neuköllner.net vom 26.1.2018.

Nils Lehmann und Christoph Rauhut: Fragments of Metropolis Berlin. Expressionist Heritage in Berlin. München: Hirmer, 2016.

Preußisches Finanzministerium: Centralblatt der Bauverwaltung vom 22.4.1882.

Klaus Rieseler: Frühe Großbrauereien in Deutschland. Die Brauereiarchitektur zwischen 1870 und 1930 in den Städten Dortmund, Kulmbach und Berlin, Dissertation, Technische Universität Berlin 2003. 


Kuratorin: Kathrin Becker in Zusammenarbeit mit Katja Kynast und Georg Lehmann
Recherche: Peter Hübert
Projektbeteiligte: Alejandra Borea, Ulrich Borgert / Maske + Suhren Gesellschaft von Architekten, Olga Solodova, Can Kurucu, Sarah Lamparter / Büro Otto Sauhaus, Kristina Popov, Maria Rogucka, Anastasios Vardoulakis.